Was für ein Fest!
von Thomas Perlick
Tim geht mit Vater und Zweitmutter auf den Weihnachtsmarkt. Zweitmutter ist die Nachfolgerin von Erstmutter, die jetzt bei Herrn Lohmann wohnt. Herr Lohmann war Vaters bester Freund. Jetzt nicht mehr. Klar doch.
„Du bleibst immer ganz dicht bei uns, Tim!“, sagt die Mutter. „Es gibt mehr als hundert Stände hier. Da kommt man sich leicht abhanden!“
Kuhschiss, denkt Tim. Jetzt muss ich wieder die ganze Zeit bei den Alten bleiben! Na Klasse!
„Und immer den Schal fest verknotet am Hals, Junge!“, fängt jetzt Zweitmutter wieder an. „Am Hals beginnt die Kälte ihren Angriff auf den Körper. Am Hals ist man tuchlos wehrlos.“
Ja, ja, ja, denkt Tim. Immer diese Weisheiten. Elender Weihnachtsfrustmarkt!
Vater trinkt den ersten Glühwein.
Zweitmutter sieht Else, das Quasselungeheuer aus ihrem Betrieb. Oh nein, denkt Tim: Endlos-Redefluss-Else, die manchmal zu Besuch kommt und Stunden mit Zweitmutter quatscht. Else, die anruft und einen halben Tag lang das Telefon blockiert. Quassel-, Laber- und Schrill-Schrei-Else! Vater hat sie auch schon gesehen und sich Richtung Schießbude davongemacht.
„Ist das eine Überraschung“, kreischt Zweitmutter los. Else erwidert mit einem Ton wie Schiffssirene. `Jetzt nichts wie weg!`, denkt Tim. Es gelingt im ersten Anlauf. Zweitmutter hat ihn bereits vergessen. Kann ja mal passieren.
Marion aus Tims` s Klasse hat übrigens schon einen Drittvater. Da zählt man dann langsam runter wie beim Boxen.
Tim langweilt sich, Weihnachtsfrustmarkt eben. Rechts ein großer Mann mit Sonnenbrille, links zwei Omas, die riesige Damenunterhosen aus einem Stapel ziehen und betatschen. `Hoffentlich probieren sie die jetzt nicht auch noch an`, denkt Tim. Überall ringsum dudelt es, knallt und scheppert, riecht nach verbrannten Nüssen und Flammkuchen.
Tim hört jetzt von hinten „Oh du fröhliche“ und von vorn „Lasst uns froh und munter sein“. Beides zusammen klingt wie Plärr - Else nach fünf Gläsern Eierlikör. Er sieht die Hau – den – Lukas - Maschine, den Weihnachtsbaumverkäufer und dann, ja dann, sieht er Lisa, aber er weiß noch nicht, dass sie so heißt. Lisa blickt in zwei Spiegel. Der eine macht alles breiter, der andere höher. Breiter sieht Lisa aus wie die kugelrunde Eisverkäuferin vor der Schule, die sie alle „Medizinball“ nennen. Höher sieht Lisa aus wie der Kirchturm von Sankt Peter, wenn er nachts angestrahlt wird. Aber Tim mag gar nicht in den Spiegel schauen. Lisa live und in Natur ist nämlich ein Traum von einem Traummädchen. Sie ist so schön, dass man auch noch die Glocken von Sankt Peter hört, aber nicht im Ohr, sondern im Bauch. Läutende Därme sind neu für Tim. Wahnsinn, denkt er, die ist ja noch schöner als die Mutter von Jens, die aussieht wie aus dem Titelbild der Fernsehzeitung ausgeschnitten. Lisa ist eine Explosion an Schönheit. `Die muss doch Bombenkrater hinterlassen`, denkt Tim. Zum Geläut in seinem Bauch kommen Detonationen in seinem Kopf. Booor, Mann, was für eine Queen!, sagt er vor sich hin. Wenn ich ihre Nummer wüsste, würde ich sie jetzt anrufen.
Aber auch so sind es ja höchstens 10 Meter bis zu ihr.
„Komischer Spiegel, was?“, sagt Tim, der noch keine Erfahrung im Schöne - Mädchen - Anmachen hat.
Lisa sieht kurz zu ihm hin. Sie sagt nichts.
Boor!!, denkt Tim, aus der Nähe ist die ja noch phänomenaler.
Jetzt weiß er allerdings nicht, was er tun soll. Von vorne kommt eine dürre Dame aus der Generation 50 plus, goldketten.- und klunkerbehängt. Schwerstmäßig überschminkt.
„Sieht ja aus wie eine Litfasssäule nach dem zweiten Graffittygroßangriff“, flüstert Tim in Lisas Ohr.
Lisa muss lachen, aber es geht nur ohne Töne. Der Mund lacht, die Stimme nicht. Na immerhin, denkt Tim, geht doch schon mal.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragt er, weil es jetzt logisch ist.
Lisa schaut zu Boden. Sie sagt wieder nichts. Na Klasse, denkt Tim, hab` s verbockt. Die tau ich wahrscheinlich niemals auf.
„Ist schon okay, wenn du nicht mit mir reden willst. Ich geh jetzt Zuckerwatte vernichten. Komm einfach mit, wenn du möchtest, ich lade dich ein.“
Aber Lisa bleibt stehen, greift in die Tasche, zieht einen Block heraus und schreibt: „Ich heiße Lisa, bin zwölf und kann nicht sprechen. Aber Zuckerwatte ist gut.“
Tim liest, lächelt Lisa an und kauft zweimal Zuckerwatte. Jetzt essen sie, lassen weiße Spuren an ihren Backen kleben, lächeln beide und blicken auf das Riesenrad.
„Diesmal bezahle ich“, schreibt Lisa.
Sie steigen ein. Als sie ganz oben sind, hält das Riesenrad an. Sie überblicken die halbe Welt, den Weihnachtsmarkt und die Milchstraße.
`Hoffentlich ist das Riesenrad kaputt`, denkt Tim. Das wäre toll, ein schöner qualmender Motorschaden und der Monteur nicht aus dieser Stadt, müsste geholt werden und ich so dicht neben Lisa. Und dann merkt Tim plötzlich, dass er`s nicht nur gedacht, sondern laut gesagt hat und Lisa stumm vor sich hin lächelt. Da wird ihm doch noch schwindlig, aber nicht von der Höhe, sondern von Lisas Augen, die wie Eingänge sind in Zauberwelten, Manegen voller Zirkuspferde und Feuerschlucker. Augen wie goldene Drehtüren. Boor! - denkt Tim, was für schillernde Farben in diesen Fischaquriumpupillen. Auch das hat er nur denken wollen, aber wieder ganz laut gesagt, und Lisa lächelt vom Süd - bis zum Nordpol und schreibt: „Danke, kleiner Prinz!“, schiebt ihre Hand so tief in seine hinein, als ob man zwei Kämme miteinander verharken oder mit zwei verschiedenen Händen beten wollte. Dann schreibt sie: „Siehst du, wie sie da unten alle durcheinander rennen, einer am andern vorbei, als ob jeder ganz allein wär?“
Tim sieht es. Alles erkennt er mit ihren Drehtüraugen, in denen die Welt ein und ausgeht. Er verknotet sich fester in ihre Hand hinein und sieht wie die Knöchel rot werden.
„Tut es weh?“, fragt er. Lisa schüttelt so sehr den Kopf, dass die Gondel wackelt.
Boor! - denkt er, kann die den Kopf schütteln! Das ist ja phänomenaler als Tischtennis von der Seite gucken. Dann setzt sich das Riesenrad wieder in Bewegung. Jetzt sind die anderen dran, oben stehen zu bleiben. Tim und Lisa hängen in der Mitte. Das ist immer noch schön. Die Leute, die aneinander vorbei rennen, sind größer geworden.
„Bist du allein hier?“, fragt Tim. Lisa nickt. Sie zeigt nach links. Dort steht ein uralter Herr neben einer steinalten Dame, beide ungefähr 150. Der uralte Herr holt der steinalten Dame einen Bratapfel und küsst sie auf die Nase. Dann gehen sie weiter, so verknotet wie Lisa und Tim.
„Siehst du“, schreibt Lisa. „Das ist gut.“
„Sind aber schon ganz schöne Dinos, oder?“, fragt Tim. „Hornalt, gruftnah.“
„Das spielt keine Rolle“, schreibt Lisa, „oder siehst du es nicht?“
Tim weiß, dass sie recht hat. Vielleicht sollte er Lisa auch auf die Nase küssen. Aber ihr Mund ist eigentlich noch schöner, dieses tonlose Instrument, dieser herrliche Konzertflügel, den man aufklappt, in die Tasten greift und der doch still bleibt.
„Was denkst du?“, schreibt Lisa, die ihn lange angesehen hat.
„Ob ich dich auch auf die Nase küssen sollte.“
„Und was noch?“, schreibt sie.
„Ob dein Mund wie ein Klavier ist, das nicht mehr spielt.“
Lisa nickt.
„Ein kaputtes Klavier, meinst du?“ schreibt sie in zittriger Schrift.
„Nein, kaputt nicht, nur außer Betrieb, kurzzeitig.“
„Schon seit zweieinhalb Jahren“, schreibt sie.
„Sag ich doch“, antwortet Tim. „Kurzzeitig.“
Sie fahren noch einmal, hocken wieder oben und überblicken das ganze Verlorengehen. Da traut sich Tim und küsst Lisa, aber nicht auf die Nase, sondern direkt auf den Konzertflügelmund, der sich ein Stück öffnet und eine Musik spielt, die man nicht hören, aber bis in die Fußspitzen hinunter fühlen kann. Wahrscheinlich haben sie eine ganze Rockband in dem Ding versteckt, nicht nur den Pianisten, auch mindestens drei E-Gitarren und so ein beinhartes Schlagzeug, wie es Boris von der Schülerband immer so genial verdrischt. Irgendwo spürt Tim sogar Streicher im Rückenmark, während ein Saxophon den Blinddarm aufmischt und zwei Bässe sein Herz rhythmisch hämmernd auf den Blutbahnen entlang jagen. Es ist wie Wellenreiten. Als sich der Konzertflügel noch ein wenig weiter öffnet und all die glänzenden Tasten sich selbständig machen, hört Tim in seiner Milz den black water blues, im rechten Lungenflügel schmiert gerade Jimmy Hendrix mit seiner E-Saite ab und John Lennon spielt Let it be mit seinen toten Händen. Let it be ist zwar vom Text her falsch, aber sonst nicht übel mitten im Dickdarm.
Jetzt wird es still, weil Lisa Luft holen und Tim sich irgendwie einkriegen muss. Boor, Mann!!, sagt Tim zu Lisa. „Was für ein Fest!“
Da sieht er plötzlich unten Zweitmutter mit Schrill-Schrei-Else stehen. Die glotzen irgendwie komisch zu ihm herauf. Als ob jetzt bei ihnen Weihnachtsfrustmarkt wäre wie vorhin bei Tim. Als hätten sie irgendwas Schreckliches begriffen in diesen 90 Sekunden Küssen auf dem Riesenrad. Als hätten sie eine solche Musik schon lange nicht mehr gehört, vielleicht nur noch geahnt. Eine geahnte verlorene Musik, das muss schlimm sein, denkt Tim. Zweitmutter sieht so leer aus, dass man sie bedauern muss und Else ist einfach nur fassungslos still ganz gegen ihre Natur. Sie blicken wie fiebrige Zwillinge zu ihm auf. Ihre Augen, ihre Hände, alles bettelt: Erspar` es uns ein zweites Mal! Aber Tim muss keinem etwas ersparen.
„Weihnachten ist mir immer nach ganz viel Musik zumute“, sagt er und beugt sich zu Lisas Konzertflügelmund hinüber.
„Mir auch“, haucht sie mit ihrer ersten Stimme nach zwei Jahren und gibt ihm die zweite Stunde in freier Improvisation.
(Thomas Perlick ist Pfarrer in Römhild)
Auf der Suche nach dem eigenen Wert
Ich möchte eine kurze Geschichte von einer Frau erzählen.... Immer hatte sie nur den Erwartungen von anderen entsprochen – es versucht jedem recht zu machen. Waren die anderen glücklich, war sie es auch. Waren sie traurig, so war sie am Boden zerstört. Ihr Selbstwert war vollständig von anderen abhängig. Da kam es, dass sie sich auf die Suche begab: auf die Suche nach ihrem Wert, nach ihrer Würde, nachdem, was ihr Dasein ausmachte.
So ging sie in ein riesiges Einkaufszentrum und gab dort viel Geld aus. Wenn sie etwas kaufte, wurde sie respektvoll behandelt und beraten. Wenn sie etwas kaufen konnte, fühlte sie sich wertvoll und geachtet. Aber schließlich hatte sie viele Dinge, die sie eigentlich gar nicht brauchte.
Dann verschenkte sie die Sachen wieder; machte anderen große Geschenke. Die Beschenkten freuten sich und machten ihr viele Komplimente. Doch als sie zuletzt nicht mehr so große Geschenke machen konnte, zogen sich die anderen zurück und sie stand wieder allein da.
Dann ging sie von einer Feier zur nächsten und feierte mit vielen Gästen; sie wurde als gute Gastgeberin gefeiert, trank sehr viel und hatte viel Spaß zusammen mit Freunden und Verwandten. Doch als die Feier um war, da blieb ihr nur der große Berg Abwasch und das Aufräumen.
Dann dachte sie ihre Würde in der großen weiten Welt zu finden und reiste in ferne Länder, lernte andere Menschen, andere Sitten und Bräuche kennen. Sie meditierte mit buddhistischen Mönchen, um zu sich selbst zu finden. Wenn sie unterwegs war, war sie glücklich, wenn sie die Ferne am Horizont sah, glaubte sie: Das ist alles nur für mich da. Darin besteht meine Würde. – Aber überall, wo sie hinkam, war sie nur Gast. Sie wurde zwar würdevoll behandelt, aber keiner wusste, wer sie in Wirklichkeit war – nicht einmal sie selbst!
Nachdem sie nun weit herumgereist war, erblickte sie neben prächtigen Bauten und Sehenswürdigkeiten eine kleine unscheinbare Kapelle: Als sie näher kam, vernahm sie eine Melodie. Es war ein Gesang. Ein Dutzend Christen sangen gemeinsam Loblieder – ganz ohne Orchester oder Instrument. Ihre Stimmen erfüllten die ganze Kapelle. Sie setzte sich dazu und wusste plötzlich: Hier war sie am Ziel ihrer Reise angekommen. Sie sang einfach mit und lobte Gott. Durch die Akustik erschien es ihr, dass ihre Seele mit den anderen gemeinsam in den Himmel getragen wurde. Während sie sang, begriff sie: Es war Gott, dem sie alles in ihrem Leben verdankte, der sie auf allen ihren Wegen begleitet und bis jetzt auf sie gewartet hatte.
© by steinkemichael@web.de