Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Christoph Matschie
Grußwort zur Eröffnung des Themenjahrs „Reformation und Toleranz“
18. Januar 2013, Stadtkirche Waltershausen, 13.00 Uhr
Damen und Herren
Unsere Geschichte steckt noch immer voller Entdeckungen. Vor wenigen Jahren zum
Beispiel suchten Archäologen in Eisenach nach dem Grundriss des Hospitals, das die
heilige Elisabeth angelegt hatte. Sie fanden es - unterhalb der Wartburg.
Sie fanden aber auch noch etwas anderes: Ein Skelett. Unehrenhaft, ohne ein ordentliches
Begräbnis verscharrt. So ging man mit Verbrechern um. Wer war der Tote? Vieles spricht
dafür, dass es sich um Fritz Erbe (1500-1548) handelt. Erbe war ein Zeitgenosse Luthers.
Ein wohlhabender Bauer aus Herda. Weil er sich der Täuferbewegung angeschlossen hatte,
wurde er festgenommen, verhört, eingesperrt. Rund zehn Jahre lang, bis zu seinem Tod
1548, saß er in dem Verließ auf der Wartburg ein. Zehn Meter unter der Erde, in der Kälte,
ohne jedes Licht.
Die Wartburg hat Luther, dem Junker Jörg, Schutz gegeben. Unter der Wartburg verbirgt
sich aber auch ein anderes, ein dunkleres Kapitel der Reformationsgeschichte: Die
Ausgrenzung und Verfolgung von Andersgläubigen durch die Reformatoren der ersten
Stunde. Es gab Prozesse gegen die Täufer aus Eisenach, Herda, Berka, Gerstungen. Aus
Langula, Tüngeda und Craula. Der Prozess, der uns am meisten erschüttert, fand hier in
Reinhardsbrunn statt. Anfang Januar 1530 wurden neun Frauen und Männer aus der
Gemeinde Zella St. Blasii verhört. Sechs von ihnen hielten an ihrer Überzeugung fest: Am
18. Januar 1530, heute vor 483 Jahren, wurden sie hingerichtet. In Reinhardsbrunn hat zum
ersten Mal eine lutherische Obrigkeit ein Todesurteil verhängt. Daran erinnert die Stele, die
wir nachher gemeinsam enthüllen wollen.
Reformation und Toleranz: passt das denn zusammen? Die erste Antwort ist: Nein. Luther
und seine Weggefährten waren nicht tolerant. Die Gewissensfreiheit, die Luther vor dem
Reichstag in Worms für sich in Anspruch nahm, ließ er nicht für alle anderen gelten. Nicht
für die Täufer. Nicht für Katholiken. Und auch nicht für Juden oder Moslems. Gerade die
antijudaischen Luther-Schriften sind für uns heute schwer erträglich. Toleranz:
Fehlanzeige.
Und jetzt das: ein Themenjahr Reformation und Toleranz. Zur Halbzeit der Lutherdekade
haben wir uns etwas Schönes eingebrockt. Schauen wir einmal zurück:
2009. Der 500. Geburtstag von Calvin, dem Reformator aus dem Südwesten. Anlass für
einen Blick auf die unterschiedlichen Bekenntniskulturen, die sich im Zuge der
Reformation entwickelt haben.
2010 Reformation und Bildung. Das leuchtete allen ein. Vor allem hier in Thüringen.
Bibelfestigkeit erforderte Lesefähigkeit. Deswegen hat das Schulwesen gerade in den
protestantischen Ländern nach der Reformation einen Schub erlebt.
2011 Reformation und Freiheit. Wer zwei Jahrzehnte zuvor dabei war, wer mit erlebt hat,
welche Kraft sich in den vollen Gemeinderäumen und Kirchensälen bei den
Montagsgebeten 1989 entfaltet hat, der hatte eine Vorstellung davon, was Luther meinte
mit der „Freiheit eines Christenmenschen“.
Und vergangenes Jahr schließlich - Reformation und Musik. Große, bundesweite Eröffnung
in Eisenach. Eine Begeisterung, von der sich viele in Thüringen haben anstecken lassen.
Museen, Chöre, Kirchen und Vereine sorgten gemeinsam das ganze Jahr über für ein
pralles Programm. Reformation und Musik: 2012 war das Thüringen-Jahr der Dekade. 2012
war das Jahr, in dem der Funke übergesprungen ist. Das Jahr, in dem deutlich wurde,
welches Potential die Lutherdekade für uns hat. Weil sie Gäste aus aller Welt neugierig
macht auf Thüringen.
Aber nicht nur das. Die Reformationsdekade lädt uns ein, Fragen zu stellen: Nach unserer
Herkunft, unserer Identität. Nach dem, was uns zusammenhält. Nach dem, was uns
wichtig ist. Die Reformationsdekade fordert uns heraus.
2013 gilt das ganz besonders. Reformation und Toleranz: Das ist kein Wellness-Thema.
Das Motto Reformation und Toleranz ist ein bewusst in der Mitte des Weges gesetzter
Stolperstein. Toleranz ergibt sich nicht aus etwas anderem. Toleranz muss immer wieder
erarbeitet werden.
In der Geschichte der Toleranz haben die Vertreter der Reformation keine Heldenrolle
gespielt. Aber sie haben einen Prozess angestoßen, der nicht mehr aufzuhalten war. Denn
nach Luther gab es etwas, was es in der neueren Geschichte so nicht gegeben hatte:
Differenz – in den religiösen Überzeugungen, in den Meinungen, und auch in der
Lebensweise.
Wir leben heute in einer pluralen Gesellschaft. Das ist ein großes Glück. Das eröffnet uns
Möglichkeiten der Entfaltung. Das stellt uns aber auch vor Fragen. Wo ziehen wir die
Grenze zwischen dem, was wir dem Einzelnen an persönlicher Freiheit zugestehen und
dem, was wir nicht dulden?
Manche Grenzen stehen für uns fest. Keine Toleranz gegenüber Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus. Das heißt auch: Keine Duldung rechtsextremer Parteien. Daher unterstütze ich
das NPD-Verbotsverfahren.
Manche Grenzen müssen wir neu verhandeln und erproben. Zum Beispiel das
Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Im vergangenen Sommer
haben alle Fraktionen des Thüringer Landtages einen Entwicklungsplan Inklusion
beschlossen. Der Wille ist da. Theoretisch sind wir uns einig. Jetzt ist es wichtig, dass wir
die Umsetzung Schritt für Schritt gestalten – gemeinsam, im angemessenen Tempo.
Manche Hürden müssen wir Stück für Stück abtragen – oft in jahrelanger Arbeit. Andere
Hürden können wir schneller überwinden. Wenn wir Andersartigkeit nicht nur akzeptieren,
sondern auch zulassen wollen, dann müssen wir auch Menschen aus anderen Ländern
einen Raum geben, ihnen Bewegungsfreiheit eröffnen. Ich bin sehr froh, dass die EKM hier
mit uns am gleichen Strang zieht. Sie haben bereits vor einiger Zeit einen Appell gestartet,
die restriktive Residenzpflicht in Thüringen zu lockern. Lassen Sie nicht locker! Mischen Sie
sich weiter ein! Das wäre doch ein handfestes Ergebnis im Themenjahr Toleranz – wenn
wir hier gemeinsam ein Zeichen setzen könnten.
Toleranz beginnt mit der Duldung des Anderen. Das ist der Anfang. Daraus kann sich
Anerkennung entwickeln, schließlich Respekt und Wertschätzung.
Toleranz ist die Voraussetzung dafür, dass wir in Frieden miteinander leben können. Sie ist
Grundlage dafür, dass unser Zusammenleben gelingt. In der Erklärung der UNESCO aus
dem Jahr 1995 heißt es:
„Toleranz ist der Schlußstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus (auch den kulturellen
Pluralismus), die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält.“
Das klingt abstrakt. Das sind große Worte. Aber das betrifft jeden einzelnen von uns. Ich
sehe das Ganze als eine Art schützendes Gewölbe. Was mit dem eigenen Leben passieren
kann, wenn dieser Schutz fehlt, das wird mir bei Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen
des KZ Buchenwald immer wieder deutlich. Erst im September habe ich in Tel Aviv
Überlebende der sogenannten „Kinderbaracke“ getroffen. Viele von ihnen haben zugesagt,
ihre Erinnerungen und Erlebnisse weiterzugeben. Ihre persönlichen Zeugnisse werden in
der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald zugänglich gemacht. Und:
Thüringen setzt sich dafür ein, dass die Gedenkstätte Buchenwald einen Platz auf der
UNESCO-Liste des Welterbes findet. Denn zu unserem Erbe gehört nicht nur das Schöne
und Reine. Es gibt auch den Kulturbruch, die Barbarei – auch diesem Erbe müssen wir uns
stellen.
Thüringen ist Lutherland. Das Weltereignis Reformation nahm hier seinen Anfang. 400
Jahre nach der Reformation, in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, haben
Vertreter der evangelischen Kirche dieses Erbe missbraucht. Ich erinnere an die
Kirchenbewegung Deutsche Christen. Ich erinnere an den Martin Sasse, seit 1934
Landesbischof im Nationalsozialismus, Mitglied der Kirchenbewegung Deutsche Christen,
der 1938 die Schrift veröffentlichte: „Martin Luther und die Juden: Hinweg mit ihnen!“.
Reformatorisches Erbe in Thüringen und seine Wirkungsgeschichte also heißt immer
beides: Aufbruch in die Moderne, Ausbruch der Barbarei. Das Themenjahr Reformation
und Toleranz macht dieses Spannungsverhältnis sichtbar. Und zwar gleich mit der ersten
Veranstaltung. Schon in der kommenden Woche, am nächsten Freitag, wird eine
Ausstellung eröffnet, die sich mit dem sogenannten „Entjudungsinstitut“ in Eisenach
beschäftigt. Diese Ausstellung begleitet das Themenjahr. Schülerinnen und Schüler des
Martin-Luther-Gymnasiums in Eisenach haben sie zusammen mit der Theologischen
Fakultät der Universität Jena entwickelt. Die jungen Ausstellungsmacher wollen
Denkanstöße geben. „Wie hätte ich gehandelt?“ Das ist die Frage, die die Ausstellung bei
den Besuchern provozieren will.
„Was hat das mit mir zu tun?“ Das ist eine Frage, zu dem die Themenjahre im Rahmen der
Lutherdekade immer wieder auffordern. Was können wir aus den Ereignissen lernen? Was
können wir mitnehmen – für unseren Alltag, für unser Zusammenleben und für die
Gestaltung unserer Zukunft?
Das Themenjahr Toleranz bietet viel Gesprächsstoff. Das ist eine große Chance gerade
auch für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen – in den Kirchen, in den
Schulen und in anderen Bildungseinrichtungen. Deswegen ist es mir wichtig, dass wir in
der Dekade auch Projekte unterstützen, die sich direkt an Jugendliche wenden. Seit 2010
begleitet das Jugendbildungsprojekt „DenkWege zu Luther“ die Themenjahre.
Die DenkWege sind ein kompetenter Ansprechpartner für alle, die das Themenjahr für die
Jugendarbeit fruchtbar machen wollen. Allein im vergangenen Jahr haben über 300
Jugendliche und mehr als 200 Pädagogen, Lehrer und Bildungsreferenten an den
Seminaren und Fortbildungen teilgenommen – Interessierte kamen aus dem ganzen
Bundesgebiet, aus Sachsen, Bayern, Berlin, Hamburg oder Bremen.
Und auch für 2013 ist vieles in Planung. Ein Themenheft „Toleranz“ mit Materialien für die
Jugendarbeit liegt schon vor. Ich kann es allen empfehlen, die noch Anregungen für die
Praxis suchen.
2013 bietet uns die Lutherdekade aber nicht nur viel Stoff für Gespräche. Wir können auch
auf eine Zeitreise gehen. Zahlreiche Ausstellungen laden dazu ein. Im September bringen
uns gleich zwei große Präsentationen die Lebenswelt der Reformationszeit näher. Die
Mühlhäuser Museen führen uns zurück an den Vorabend der Reformation. Pilgerzeichen,
Andachtsbilder und Heiligenfiguren vermitteln uns einen Eindruck von der
Vorstellungswelt um 1500. Und in Schmalkalden, auf Schloss Wilhelmsburg, beschäftigt
sich eine Ausstellung mit dem Dreißigjährigen Krieg. Welche Folgen hatte dieser Krieg für
den Einzelnen? Das können wir in dieser Schau am Beispiel von zwei Familien
nachvollziehen.
Das Programm für 2013 ist schon gut gefüllt: Ausstellungen, Tagungen, Vorträge und
Konzerte ziehen in ganz Thüringen wieder Besucher an. Ich danke allen, die mit ihrem
Engagement dazu beitragen, dass das Themenjahr mit Leben erfüllt wird.
Ich bin gespannt auf die großen und kleinen Entdeckungen. Ich bin vor allem aber
gespannt auf die Begegnungen und Gespräche, zu denen uns das Themenjahr Toleranz
anregen wird. Wenn wir nachher zusammen in Reinhardsbrunn die Stele enthüllen, die an
die Frauen und Männer erinnert, die dort hingerichtet worden, dann ist das auch eine
bleibende Verpflichtung.
Toleranz zu ermöglichen - das ist Aufgabe der Politik. Toleranz umzusetzen und zu leben –
das ist Aufgabe von jedem einzelnen. Darüber können wir in diesem Jahr in den Dialog
treten. Ich freue mich darauf.
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